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Titel
Die Ersten im Kreis. Herrschaftsstrukturen und Generationen in der SED (1946–1971)


Autor(en)
Pohlmann, Tilman
Reihe
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Berichte und Studien 73
Erschienen
Göttingen 2017: V&R unipress
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Pannen, Humboldt-Universität zu Berlin

Als 1988 die Reportage „Der Erste“ über den 1. SED-Kreissekretär Hans-Dieter Fritschler erschien, handelte es sich um eine kleine Sensation. Nie zuvor hatte ein Journalist einen hohen Parteifunktionär, seinen Arbeitsalltag und damit das SED-Innenleben „hautnah miterleben und protokollieren dürfen“, wie der „Spiegel“ 1989 zu berichten wusste.1 Immerhin wurde hier der Parteichef des thüringischen Kreises Bad Salzungen porträtiert. Das nur schwer zugängliche Innenleben der einst so machtvollen SED ist in den letzten Jahren auch auf lokaler Ebene verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt.2 Tilman Pohlmann blickt mit seiner Untersuchung hinter die Fassade der lokalen Machtzentren der sogenannten Einheitspartei und widmet sich in seiner Studie den sächsischen SED-Kreisleitungen und ihren ersten Funktionären in der Ulbricht-Ära, indem er Struktur-, Sozial- und Erfahrungsgeschichte miteinander verschränkt.

Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, wie es der SED in den ersten 25 Jahren in den Kreisen gelang, ihre Herrschaft zu festigen. Diese Fragestellung wird für die Kreisleitungen in den sächsischen Bezirken Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt auf drei Ebenen verfolgt. Zunächst werden organisationsstrukturell Aufbau- und Konsolidierungsprozesse der Kreisleitungen in den Blick genommen. Anschließend widmet sich der Autor den Kreissekretären, indem er ein Sozial- und Generationenprofil der lokalen Herrschaftselite entwickelt. Daran anknüpfend untersucht er den Zusammenhang aus Generationszugehörigkeit und beruflicher Mobilität.

Im ersten Kapitel zeichnet Pohlmann akribisch die Aufbauphase der sächsischen Kreisleitungen nach, ihre strukturelle Neuausrichtung sowie die innerparteiliche Herrschaftsdurchsetzung mit der Umwandlung zur „Partei neuen Typs“. Dabei misst er den Instrukteuren als „diktatorischer Außendienst“ (S. 224), den Parteiaktiven, den Kreisparteikontrollkommissionen und der Verdoppelung der Kreisleitungen im Zuge der Kreis- und Verwaltungsreform von 1952 (S. 92) große Bedeutung bei. Bis zu Beginn der 1960er-Jahre hatten sich Organisationsstrukturen dann, so Pohlmann, immer mehr professionalisiert. Mit den Wirtschaftsreformen 1963 wurden in den Kreisleitungen neue Führungsinstanzen nach dem Produktionsprinzip eingerichtet, die zu einer Aufgabenreduktion für die Kreissekretäre und damit zu einer Abnahme ihres Einflusses führten. So stießen die Reformen bei ihnen nicht nur auf Ablehnung. Der Autor räumt „den restaurativ eingestellten Ersten“ einen entscheidenden Anteil für das Scheitern des Reformexperiments ein (S. 120). Mit dem Machtwechsel zu Erich Honecker setzte dann eine lange Phase der organisationsstrukturellen Stagnation ein.

Daran anschließend entwickelt Tilman Pohlmann ein Sozial- und Generationenprofil der sächsischen Kreissekretäre. Da die Personalakten Informationen nur lückenhaft überliefern, hat der Autor auch auf andere Quellen zurückgegriffen, wie Delegiertenbögen, Lebensläufe und Einschätzungen. Auf dieser Grundlage hat er für 313 in der Ulbricht-Ära amtierende sächsische 1. SED-Kreissekretäre kollektivbiografische Informationen zusammengetragen, wie soziale Herkunft, Schul- und Berufsausbildung, politische Sozialisation, Haft- und Kriegserfahrungen oder auch Karrierestationen (S. 241). Darauf aufbauend kann Pohlmann ein klares, fast schon homogenes, soziales Profil zeichnen: Drei Viertel und damit die große Mehrheit der sächsischen Ersten entstammten dem Arbeitermilieu, viele aus parteipolitisch aktiven Elternhäusern. Die Meisten waren gebürtige Sachsen und gingen nach der Volksschule direkt in den Ausbildungsbetrieb, wo sie – ganz wie ihre Väter – einen handwerklichen oder auch einen kaufmännischen Beruf erlernten. Der Posten des 1. Kreissekretärs war Männersache, und Frauen waren die große Ausnahme. Diese Merkmale wurden auch in der Studie über die Brandenburger Kreisleitung beobachtet. Nur die starke familiäre Verwurzelung in einer der beiden Arbeiterparteien konnte dort nicht festgestellt werden.3

Dieses Sozialprofil kann der Autor mit einer generationsgeschichtlichen Perspektive erweitern und identifiziert vier politische Generationen, die sich durch verschiedene Erfahrungen, Prägungen und mentale Dispositionen auszeichnen. Zunächst sind da diejenigen bis 1902 geborenen Jahrgänge der 1. Kreissekretäre, die allesamt in einer der beiden linken Parteien organisiert waren, am Ersten Weltkrieg teilgenommen und politische Verfolgung während des Nationalsozialismus erlebt hatten. Die Angehörigen der zweiten Generation, die die Jahrgänge 1903 bis 1916 umfasst, waren politisch insbesondere durch den Kampf auf der Straße während der Weimarer Republik und durch Verfolgung und Widerstand unter der nationalsozialistischen Herrschaft geprägt. Die dritte Generation bilden die Jahrgänge 1917 bis 1925, die eine „gespaltene Generation“ (S. 178) darstellte. Sie waren eng mit der organisationskulturellen Lebenswelt des NS-Systems im Jugendalter verbunden, was sie von ihrem Herkunftsmilieu entfremdete. Prägend waren der Kriegseinsatz im Zweiten Weltkrieg und das Jahr 1945 als demoralisierendes Schlüsselerlebnis. Die Mehrzahl trat nach ihrer Rückkehr in die SED ein und absolvierte ideologische Schulungen. Als vierte politische Generation werden jene zusammengefasst, die zwischen 1926 und 1932 geboren wurden. Sie waren ebenfalls durch die nationalsozialistischen Erziehungs- und Bildungsinstanzen geprägt und erlebten 1945 eine tiefe Orientierungskrise. Anders als die Angehörigen der dritten Generation wurden sie vorwiegend als vom Nationalsozialismus „Verführte“ betrachtet.

Im letzten Kapitel führt der Autor die Analyseebenen bei der Rekonstruktion der Rekrutierungspraxis zusammen: Bis Ende der 1950er-Jahre waren die beiden ersten Generationen unter den sächsischen Kreissekretären vorherrschend. Aufgrund des andauernden Kaderhungers setzte im Laufe der 1950er-Jahre allmählich eine Verjüngung ein. Seit Beginn der 1960er-Jahre dominierten dann die Jahrgänge der dritten und vierten Generation die regionale Herrschaftselite, womit der von der Parteispitze gelenkte Generationenwandel zum Abschluss gekommen war. Mit der Verjüngung dominierten nun auch reine Parteilaufbahnen in den Karriereverläufen. Diese Entwicklung erhielt auch mit den Wirtschaftsreformen keine neue Richtung. Pohlmann kommt zu dem Ergebnis, dass der Ausbau und die Konsolidierung der lokalen Parteiapparate in Kombination mit der Rekrutierung jüngerer, stark anpassungsbereiter Kader über die Ulbricht-Ära hinaus Stabilitätsanker der Parteiherrschaft in den sächsischen Kreisen waren.

Der Autor hat mit der Kollektivbiographie ein instruktives und vielschichtiges Bild der politischen Führungsgruppe der sächsischen SED-Kreisleitungen herausgearbeitet. Da er sich überwiegend auf Parteiüberlieferungen stützt, bleiben die Akteure selbst stellenweise etwas blass. Zwar greift der Autor auf selbstverfasste Lebensläufe zurück, wobei er die mit dieser Quellengattung verbundenen Schwierigkeiten kritisch reflektiert. Die Einbeziehung weiterer Selbstzeugnisse hätte den subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen der Ersten jedoch noch stärkere Konturen und auch den Überlegungen zur Bindekraft zwischen den Generationen (S. 213) größere Erklärungskraft verliehen. Insgesamt liefert Tilman Pohlmann einen erhellenden und wichtigen Beitrag über die Parteiapparate in den Kreisen und ihrem Leitungspersonal in der Ulbricht-Ära.

Anmerkungen:
1 Sisyphus in Bad Salzungen. Aus dem Innenleben der SED. Ein DDR-Bestseller über den Alltag eines Parteifunktionärs, in: Der Spiegel, 30.10.1989, S. 168–169, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13499921.html (05.06.2020).
2 Für eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektivierung der SED-Herrschaft in den Kreisen und eine Analyse der Herrschaftspraxis nach dem Mauerbau steht die Dissertation von Andrea Bahr, Parteiherrschaft vor Ort. Die SED-Kreisleitung Brandenburg 1961–1989, Berlin 2016.
3 Vgl. Bahr, Parteiherrschaft vor Ort, S. 121.

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